Die Sicht von Unity in Duality

Einführung

Es gibt eine zeitlose, universelle Erkenntnis, die von der östlichen Inneren Wissenschaft über die menschliche Existenz und die Existenz des Universums getragen und entwickelt wurde. Diese Erkenntnis ist so alt, dass sie sogar mit dem alten westlichen Wissen verbunden gewesen sein könnte, lange bevor sie in der östlichen Hemisphäre in Indien und später in Tibet erblühte (1).

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Einführung (Forts.)

Dazu gehört das Wissen, dass unsere scheinbar feste Welt in ihrem tiefsten Wesen einem ständigen Werden und Vergehen unterliegt; und dass an der Wurzel alles mit allem anderen verbunden ist, in Einheit; und dass alles, was existiert, separate kausale Existenzlinien hat, die gleichzeitig mit allen anderen Linien in Beziehung stehen, und dass alles Existierende nur aufgrund des Zusammenwirkens von unzähligen Ursachen und Komponenten in jedem Moment existiert – in der Dualität.

Im Sanskrit wird die Verwobenheit der Existenz “Pratītyasamutpāda” und im Tibetischen “Tendrel” genannt. UNITY IN DUALITY entspringt der östlichen inneren Wissenschaft, die in der buddhistischen Tradition übermittelt und Ausdruck dieser universellen Einsicht ist.

Die spezifische Sichtweise von UNITY IN DUALITY wird am besten durch das zentrale Paradigma der drei miteinander verbundenen Einheiten ‘Subjekt – Objekt’, ‘Körper – Geist’ und ‘Energie/potenzielles Feld – Materie’ beschrieben. Diese Zusammenhänge in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen und in der persönlichen Erfahrung zu verwirklichen, ist der Kern von Tarab Tulku XI ganzheitlichem Ansatz und sein tiefstes Anliegen.


Die Wechselbeziehung von ‘Subjekt’ und ‘Objekt’

In der buddhistischen Wissenschaft des Bewusstseins (2) finden wir eine präzise Analyse der Wahrnehmungs- und Erkenntnismittel des Subjekts, die genau und ausschließlich der jeweiligen Wahrnehmungs- und Erkenntniserfahrung entsprechen (Objektpole). Zum einen gibt es die fünf Sinnesbewusstseine, welche die Wahrnehmung der fünf Sinnesobjekte ermöglichen; zum anderen gibt es das sogenannte sechste Bewusstsein, das dem Erkennen, Fühlen usw. der jeweiligen Erfahrungen (Objektpole) dient (3). 

Das bedeutet, dass unsere Wahrnehmung und Erkenntnis des Objekts niemals über die spezifische Kapazität der jeweiligen Wahrnehmungs- und Erkenntniswerkzeuge hinausgehen kann. Aufgrund der spezifischen Eigenschaften dieser Werkzeuge erfährt das Subjekt also das ‘Referenzobjekt’ in diesen besonderen Erscheinungsformen, in denen es wahrgenommen wird (Objektpole): Ohne die wahrnehmenden ‘Sinnesbewusstseine’ würde die ‘Sinnesrealität’ nicht in dieser Form existieren, und ohne das ‘kognitive Bewusstsein’ gäbe es auch die ‘kognitive Realität’ nicht. Gleichzeitig können ohne die ‘Referenzobjekte’ auch die jeweiligen ‘Sinne’ und ‘sechsten Bewusstseine’ und deren Erfahrungen (Objektpole) nicht im Inneren entstehen. Daher kann man schlussfolgern, dass sowohl in Bezug auf die ‘Sinnesbewusstseine’ als auch auf die ‘sechsten Bewusstseine’ der ‘Geist’ (Subjekt-Pole) und die entsprechenden Erfahrungen (Objekt-Pole) in Wechselbezüglichkeit und gleichzeitig entstehen. Dies ist eine erste Ursache und Begründung für die Wechselbeziehung von ‘Subjekt’ und ‘Objekt’.

Darüber hinaus bestimmt der Grad der Subtilität der entsprechenden Wahrnehmungs- und Erkenntnismittel die Art der erlebten Realität. Je subtiler die Werkzeuge des Subjekts sind, desto feiner oder subtiler ist das ‘Objekt’. Dies ist eine zweite Ursache und Begründung für die Wechselbeziehung von ‘Subjekt’ und ‘Objekt’.

Einer der buddhistischen philosophischen Schulen (4) zufolge entspringen das ‘Subjekt’ (man selbst) und die ‘Objekte’ (andere Wesenheiten) der gleichen Wurzel. Aufgrund von äußerst subtilen Energieeindrücken (5) auf der fundamentalen Ebene des ‘universellen Bewusstseins’ von dualer Natur aus früheren eingefalteten Universen kommt es zu einer Aufspaltung in ‘Selbst’ und ‘Andere/s’ (6), wodurch der Dualismus wieder ins Leben gerufen wird. Von hier aus manifestiert sich Dualität in immer gröberen Formen, bis wir die Ebene von ‘Subjekt’ (man selber) und ‘Objekt’ (andere Wesen) erreichen. So sind die subtilen Energieeindrücke auf der fundamentalen Bewusstseinsebene einerseits der bestimmende Faktor für die Entwicklung der verschiedenen Ebenen von ‘Bewusstsein’ und ‘Körper’ (Subjektpole) sowie andererseits für die Erfahrung der jeweiligen ‘Objekte’ (Objektpole). Dies ist eine dritte Ursache und Begründung für die Wechselbeziehung und Einheit von ‘Subjekt’ und ‘Objekt’.

Aus diesen Gründen bzw. aufgrund dieser Ursachen bezieht sich laut UNITY IN DUALITY die Erfahrung des ‘Objekts’ ständig auf das ‘Subjekt’ zurück, sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen/erfahrungsbezogenen Ebene (7), wobei die jeweiligen Wahrnehmungs- und Erkenntnismittel im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und das ‘Subjekt’ (der Geist) der Schlüsselfaktor für die individuelle Erfahrung der Realität ist.


Die Wechselbeziehung zwischen ‘Bewusstsein’ und ‘Körper’

Die wesentlichen Bestandteile des Subjekts sind ‘Körper’ und ‘Bewusstsein’. Ausgehend vom physischen Körper und dem gewöhnlichen Bewusstsein können diese beiden Aspekte in verschiedenen Formen von ‘Verkörperung’ und ‘Bewusstsein’ auf immer tieferen und subtileren Ebenen des Subjekts gefunden werden.

Auf der äußersten Ebene ist das Subjekt die Ausprägung eines grobstofflichen Körpers mit fünf Sinnesorganen und fünf Sinneskräften. Dies bildet den Rahmen für ein grobes Bewusstsein, das aus den fünf wahrnehmenden ‘Sinnesbewusstseinen’ besteht, die mit den erstgenannten Mitteln arbeiten, und den ‘sechsten Bewusstseinen’, die auf der Grundlage der Sinneswahrnehmungen des physischen Körpers arbeiten. Auf dieser Ebene von Körper und ‘Bewusstsein’ ist das Subjekt auf die gewöhnliche Zeit-Raum-Begrenzung beschränkt.

Auf einer subtileren Ebene ist das Subjekt Ausdruck eines ‘subtileren Körpers’ (9), der mit subtilen Körpersinnen ausgestattet ist. Diese ‘Verkörperung’ bildet den Rahmen für die fünf ‘feinstofflichen Sinnesbewussteine’ und für den auf dieser Basis operierenden ‘sechsten Bewusstseinen’, die dementsprechend über besondere kognitive und intuitive Fähigkeiten verfügen. Im Traumzustand nehmen wir natürlich einen feinstofflichen Körper an, den so genannten ‘Traumkörper’, aber als Erwachsene sind wir uns dieser Verkörperung nicht sehr bewusst (10).

Fortgeschrittene Tantra-Praktizierende entwickeln durch meditatives Training die Fähigkeit, ihre ‘subtileren Körper’ bewusst zu nutzen. Diese verschiedenen Ebenen der ‘subtilen Körper’ haben je nach ihrer Subtilität eine erweiterte Zeit-Raum-Begrenzung. Diese Bedingungen der ‘feinstofflichen Körper’ werden für die spirituelle Entwicklung genutzt, um Zugang zur Existenz auf immer tieferen Ebenen zu erhalten. 

Auf der subtilsten Ebene gibt es einen extrem feinen ‘auf Energie basierenden Körper-Geist’ (11). Auch wenn man in diesem ‘Körper-Geist’-Zustand einen ‘extrem subtilen Verkörperungs’-Aspekt und einen ‘extrem subtilen Bewusstseins’-Aspekt unterscheiden kann, sind beide letztlich untrennbar miteinander verbunden. Nach tantrischer Auffassung scheint es, als ob diese Einheit von ‘Körper’ und ‘Bewusstsein’ die Grundlage aller Existenz von ‘Körper’ und ‘Bewusstsein’ ist. Auf dieser Ebene sind die zeitlich-räumlichen Grenzen weit ausgedehnt.

Daher können wir sagen, dass ‘Bewusstsein’ auf allen Ebenen in einer Wechselbeziehung zu einem Aspekt des ‘Körpers’ steht und entsprechend andersherum. Der Aspekt ‘Körper’ setzt den Rahmen für die Erfahrung des ‘Bewusstseins’. Eine ‘subtilere Verkörperung’ ermöglicht ein ‘subtileres Funktionieren des Geistes’, was zu einer tieferen Erfahrung und einem tieferen Zugang zu den ‘Referenzobjekten’ im Sinne einer zunehmend offeneren Zeit- und Raumdimension führt – was eines der Merkmale eines tiefen Meditationszustandes ist. 


Die Wechselbeziehung zwischen ‘Energie (potenzielles Feld)’ und ‘Materie’

Betrachtet man die tiefste Ebene der Wechselbeziehung zwischen ‘Körper’ und ‘Bewusstsein’, so führt uns das letztlich zurück an den Anfang der Evolution. Die Wechselbeziehung zwischen ‘Energie (potenzielles Feld)’ und ‘Materie’ muss untersucht werden, um die Wechselbeziehung von ‘Bewusstsein’ und ‘Körper’ sowie zwischen ‘Subjekt’ und ‘Objekt’ in all ihren Implikationen zu verstehen. Das Verständnis der fünf bzw. sechs (12) so genannten ‘Elemente-Ursprünge’ (13), von denen in diesen alten Traditionen gesagt wird, dass sie sich auf den Energie-Ursprung von Materie (14) bzw. in den Tantras von Körper, Geist und Existenz insgesamt beziehen, kann ein Schlüssel zum Verständnis der grundlegenden Wechselwirkung von ‘Energie (potenzielles Feld)’ und ‘Materie’ sein. Die Elemente-Ursprünge besitzen die jeweiligen Funktionen der Materialisierung (Erde-Element-Ursprung), der Kohäsion (Wasser-Element-Ursprung), der Reifung (Feuer-Element-Ursprung), der Bewegung, der Ausdehnung, der Vermehrung (Luft-Element-Ursprung) und schließlich der Potentialität dieser vier Elemente-Kräfte (Raum-Element-Ursprung) sowie der ‘Gewahrseinsnatur’ (Geist-Element-Ursprung), dem ‘Prinzip des Gewahrseins’ und Grundlage der Wahrnehmung.

Die Entfaltung von ‘Energie (potenzielles Feld)’ zu ‘Materie’ auf dieser uranfänglichen Ebene wurde folgendermaßen beschrieben (15): Wenn eine untrennbare Einheit von vier subtilen Elemente-Ursprungs-Kräften (Erde-Wasser-Feuer-Luft-Element-Ursprung) auf eine andere solche untrennbare Einheit trifft, dann entsteht etwas Neues, d.h. die Energie kristallisiert sich in einem äußerst subtilen Formaspekt, der die fünf so genannten ‘Sinnes-Objekt-Teilchen’ bildet, der nun aus insgesamt neun ‘Teilchen’ besteht (2×4=8 Elemente-Ursprünge, die zu einem komplexeren Teilchen werden, der Nr. 9).

Von hier an entfaltet sich diese ‘Energie-Materie-Kristallisation’ auf immer grobstofflichere Ebenen bis zu dem, was wir als die fünf ‘Sinnesobjekte’ wahrnehmen, die unsere materielle Welt bilden. Gleichzeitig findet der umgekehrte Prozess der Einfaltung der Materie zurück in ihre ‘Energie Ursprünge’ und ihr ‘potenzielles Feld’ unaufhörlich statt. Dieser Prozess des gleichzeitigen und kontinuierlichen Entstehens in Form, der ‘Materie’, und des Vergehens zum ‘potenziellen Feld’ kann als das grundlegende Pulsieren oder Atmen des Universums beschrieben werden.

In diesem Prozess der Einfaltung von ‘Materie’ in ‘Energie (potenzielles Feld)’ und der erneuten Entfaltung zu ‘Materie’ oder ‘Form’ bleibt selbst auf der gröbsten Ebene die lebendige Energie der ‘Elemente-Ursprünge’ erhalten. Das manifeste Universum ist somit in jedem Moment untrennbar mit seinem ‘Energie-Ursprung’ verbunden, der die ‘Materie’ in all ihren Formen und Spielarten kontinuierlich durchdringt. Dies macht die grundlegende Wechselbeziehung oder Einheit von ‘Energie (potenzielles Feld)’ und ‘Materie (Form)’ aus.

Das Paradigma der drei aufeinander bezogenen Einheiten ‘Subjekt’-‘Objekt’, ‘Geist/Bewusstsein’-‘Körper’ und ‘Energie (potenzielles Feld)’-‘Materie’ impliziert, dass die Beziehung und Einheit dieser beiden polaren Paare die Grundlage für die Beziehung und Einheit von ‘Geist’ und ‘Körper’ bildet, die wiederum die Grundlage für die Beziehung und Einheit von ‘Subjekt’ und ‘Objekt’ bildet. Nur durch das Vorhandensein der Wechselbeziehung zwischen diesen drei aufeinander bezogenen Einheiten ist alles möglich: d.h. die Natur von Ursache und Wirkung der Erscheinungen, ihre wechselwirkende Natur und jede Entwicklung der inneren und äußeren Welten, einschließlich sowohl der persönlichen Entwicklung als auch der spirituellen Entwicklung sowie jeder Form von Evolution, Transformation und Veränderung.


Schlussbemerkungen

Unity in Duality impliziert die direkte Anwendung des zeitlosen, universellen Wissens, das den Kern der buddhistischen Tradition der Inneren Wissenschaft ausmacht: nämlich die Einsicht in die wechselseitigen Beziehungen von allem, was existiert, für die persönliche und spirituelle Entwicklung. Dies wird möglich durch die besondere Aufbereitung und Präsentation dieser Einsicht in dem von Tarab Tulku entwickelten meta-religiösen und meta-kulturellen Ansatz.

In der Anwendung und persönlichen Verwirklichung dieser Einsicht können wir zu einer tieferen, natürlicheren und daher gesünderen Erfahrung und Version von uns selbst zurückkehren, und wir können persönliche Stärke in und über unser Leben zurückgewinnen. Wir sind uns alle einig, dass ein wirklich starkes Subjekt, das seine Eigenmacht bewahrt, ohne auf der Basis von Verletzlichkeiten zu projizieren, einen klaren und transformativen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben und damit konstruktiv zum Überleben der globalen Umwelt und somit der Menschheit auf bestmögliche Art und Weise beitragen kann.


Anmerkungen

1 Siehe Gendün Chöphel’s “Scientific Expedition to Various Countries” über den Ursprung der Brahmanen, Tibet 1990 (ISBN7-80589-002-1/z.1).
2 Tib. Sems-rig
3 Normalerweise erlebt der Mensch keine klare Unterscheidung davon. In unserer Erfahrung wird die Sinneswahrnehmung sofort einer kognitiven Interpretation zugeführt. Letztere wird dann als “die” Realität angesehen. Weitere Erklärung: “Die drei Disziplinen des Unity in Duality Trainings”.
4 Die Yogacara oder Cittamatra Schule.
5 Tib. Bag-chags
6 Auf dieser äußerst subtilen Ebene ist ‘selbst’ im Sinne eines ‘ursprünglichen Gewahrseins des grundlegenden Bezugs zu sich selbst’ zu verstehen, und ‘anderes’ ebenfalls im Sinne eines ‘ursprünglichen Gewahrseins des grundlegenden Bezugs zum anderen’.
7 Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die buddhistische innere Wissenschaft nicht mit idealistischen Philosophien vergleichbar ist.

8 Gemäß den buddhistischen Inneren Wissenschaften sind die eigentlichen Wahrnehmungskräfte nicht den physischen Sinnesorganen zuzuordnen, sondern den auf Energie basierenden Sinneskräften (Wangpo), die sich bei den jeweiligen Sinnesorganen befinden.
9 Tib. Yid-lus
10 Eine Ausnahme hiervon ist die Meisterung des ‘luziden Traum Körper-Geistes’.
11 Tib. rLung-sems
12 Der sechste “Element-Ursprung” ist auf eine weitere Differenzierung des fünften “Element-Ursprungs” zurückzuführen.
13 Tib. ‘Byung-ba
14 Tib. “Byung” in “Byung-gyur” bedeutet “Element-Ursprung”, wobei “Gyur” “Erscheinen von” bedeutet.
15 In Vasubandhu’s Abhidharmakosa.